Rezensionen/Reviews/Reseñas

Der Guckkasten

Einblick - Durchblick - Ausblick

 

 

Neue Zürcher Zeitung, Zürich (1995) 2/3. Dezember

Ausblick auf Raritäten

Über Guckkästen, Guckkästner und Guckkastenbilder

 

In seinem Brief vom 20. Januar 1772 zieht Werther einen bemerkenswerten Vergleich: "Ich stehe wie vor einem Raritätenkasten und sehe die Männchen und Gäulchen vor mir herumrücken, und frage mich oft, ob's nicht optischer Betrug ist." Goethes Bild wurde später von Gottfried Keller auf die Heimatstadt seines "Grünen Heinrichs" projiziert, in die man vom gegenüberliegenden Berg "wie in einen offenen Raritätenschrein" hineinschauen könne. Die Wahrnehmung der beiden Romanhelden scheint durch einen Apparat gefiltert zu sein, der in ihrer Zeit grosse Popularität genoss. Seit dem frühen 18. Jahrhundert zogen wandernde Schausteller mit eigentümlichen Holzkästen durch die Städte.

 

Die Kästen waren mit Linsen versehen, durch die bunt illuminierte Bilder bestaunt werden konnten. Gezeigt wurden biblische und historische Szenen, die vor phantastischen Architekturkulissen spielen, und vor allem Veduten mit Sehenswürdigkeiten und touristischen Attraktionen aus europäischen Städten. Zugleich befriedigte das Angebot eine geographische und völkerkundliche Neugier, die sich bald auch auf die Länder Asiens und die neuen Staaten Amerikas ausdehnte. In perspektivischen Fluchten reihten sich die Darstellungen zum einheitlichen Abbild einer Welt, in der kleine Staffagefiguren wohlgeordnet leben.

 

Guckkästen und Guckkastenblätter waren in den letzten Jahren wiederholt auf Ausstellungen zu sehen, die das Phänomen der Massenunterhaltung in eine historische Kontinuität zu Modeerscheinungen wie der "Panoramanie" stellten (vgl. NZZ, 18.6.1993). An die 1988 in Bassano del Grappa und 1990 in Mailand gezeigten Ausstellungen "Il mondo nuovo: Le meraviglie della visione dal '700 alla nascita del cinema" und "Viaggio in Europa attraverso le vues d'optique" schliesst jetzt eine Publikation an, mit der mehrere Autoren eine Übersicht ihrer Forschungen zum Guckkasten vorlegen.

 

Die Funktionsweisen des Guckkastens und seiner Varianien werden in dem im Füsslin-Verlag erschienenen Buch anschaulich beschrieben. Anleitungen zum Bau solcher Kästen lassen sich bereits für, das späte 17. Jahrhundert nachweisen. Wie bei der Laterna magica und überhaupt wie bei vielen optischen Geräten gibt es aber keinen bindenden Namen, auf den die Erfindung des Guckkastens zwingend patentiert ist. Die präparierten Bilder wurden meist auf der Rückseite des Kastens eingeschoben und durch entsprechenden Lichteinfall transparent gemacht. Hierfür wurden verschiedene Mechanismen entwickelt, die den technische Stand der jeweiligen Zeit spiegeln. Neben Erläuterungen zum Guckkasten und begrifflichen Trennungen von verwandten Apparaten enthält der Band auch Beiträge zu Guckkastenblättern, Kulissenbildem, Faltperspektiven und nicht zuletzt zum Guckkästner, der das Gerät bediente und als Vertreter aus dem fahrenden Volk auf ein volkskundliches Interesse stösst. Die Autoren sind zugleich Sammler auf ihrem Gebiet und können aus eigenen Beständen erstaunliches Material schöpfen. Das Buch verschafft einen reich bebilderten, in den Ausführungen aber nur knappen Einblick in das Thema.

 

Guckkastenbilder wurden in Paris, London, Bassano und besonders in Augsburg hergestellt. Dort hatte Martin Engelbrecht (1684-1756) mit seinen Kulissenbildem eine lokale Tradition begründet, die eine in den Jahren um 1780 gewaltig ansteigende Produktion von Guckkastenbildern fortsetzte. Zunächst trat der Verlag der "Kaiserlichen Franziscischen Akademie der freien Künste" mit der Herausgabe einer "Collection des Prospects" hervor. Ähnlich der sich gleichzeitig etablierenden Kunsthandlung des Christian von Mechel in Basel ist sich diese Institution als eine der kommerziell orientierten Zeichenschulen vorzustellen, die von den Zeitgenossen lapidar "Fabrik" genannt wurden. Die seriell gefertigten Guckkastenblätter erscheinen als ein typisches Produkt dieser Akademie. Es können mindestens 540 kolorierte Stiche nachgewiesen werden, die allein schon über diesen Verlag zu beziehen waren.

 

Von aktuellem Interesse waren reportagehafte Aufnahmen von sensationellen Naturkatastrophen wie etwa dem Hochwasser der Donau in Wien vom 28. Februar 1784. An der sukzessiv erscheinenden Folge arbeitete ein Dutzend von Stechern, die der Akademie assoziiert waren. Die Darstellungen sind mit kurzen Legenden viersprachig erläutert. Offenbar war ein entsprechend grosser Verbreitungsraum einkalkuliert. Unter den Stichwörtern "Geographie" und "Landeskunde" füllen diese Blätter heute regelmässig lange Listen in Auktionskatalogen. Doch entfalten die kolorierten Stiche erst dann ihren Reiz, wenn sie für den Gebrauch im Guckkasten präpariert sind. Nicht die verlagsfrischen Abzüge, sondern die von den Guckkästnern bearbeiteten Blätter legen ein authentisches Zeugnis der Guckkastenmode ab. Zur Vorführung stanzten die Guckkästner die Fensteröffnungen aus den Architekturdarstellungen aus und hinterklebten sie mit bemalten Papierstreifen und textilen Stoffen, die Gardinen imitieren sollten. Das mag bei Häuserzeilen wie in den Veduten von Zürich einen behaglichen Eindruck vermittelt haben, wirkt bei den Okuli und Lanzettfenstern des Florentiner Doms eher rührend.

(Thomas Weidner)

 

 

MFM fototechnik, 06/96

Der Guckkasten

 

In der Vorgeschichte der Fotografie liefen zwei Entwicklungen etwa parallel: die der Laterna Magica und die des Guckkastens. Während die frühen Projektionstechniken in neueren Buchproduktionen bereits mehrfach dokumentiert wurden, hat man dem Guckkasten und dessen Betreibern bisher weit weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Diese Lücke zu schließen, haben sich fünf Experten zusammengetan und das Thema umfassend bearbeitet. Das Prinzip des Guckkastens ist ja recht einfach: ein Gehäuse mit einer oder mehreren Einblicksöffnungen, oft mit Linsen als Vergrößerungsgläsern versehen, und dazu ein Bild, das auf diese Weise zu betrachten war. Das konnte dann gegen andere ausgetauscht werden. Dazwischen befand sich meist noch ein Umlenkspiegel. Daß ein solch einfaches Gerät Stoff für ein ganzes Buch hergeben soll, kann man sich auf den ersten Blick gar nicht so recht vorstellen. Aber in einer Zeit, in der es noch keinen Massentourismus gab, war das ein begehrtes lnformationsmedium, das sowohl in der Öffentlichkeit, als auch in der (begüterten) Familie seinen Platz hatte und erst durch die Fotografie und vor allem den Film verdrängt wurde. Doch was heißt hier verdrängt? Ist unser heißgeliebter Fernseher nicht auch nur ein Guckkasten, nur eben einer, der sich einer anderen Technik bedient?

 

Das vorliegende Buch gliedert sich in Einzelkapitel, die jeweils von einem der fünf Autoren bearbeitet wurden. So befaßt sich G. Füsslin mit der "Hardware" und deren Betreiber und W. Seitz mit der "Software", den Bildern. Den Weilerentwicklungen, wie Kulissenbildern, Faltperspektiven und Transparentbildern widmen sich ebenfalls W. Seitz sowie K.-H. Steckelings und B. Verwiebe. Zum Abschluß nimmt W. Nekes eine Einordnung des Guckkastens in Vor- und Zeitgeschichte vor und weist anhand von Beschreibungen aus der Literatur auf Neben- und Weiterentwicklungen hin.

 

In diesen Einzelkapiteln erfährt der Nicht-Eingeweihte erstaunliche Dinge. So waren die Hauptthemen der Guckkastenbilder neben Städte- und Reisemotiven vor allem Wiedergaben von Schlachten und Katastrophen (und der Guckkasten somit ein Vorläufer unserer heutigen Sensations-Medien?). Dabei beschränkte sich die Herstellung der Blätter auf praktisch nur fünf Orte, deren wichtigster Augsburg war. Von dort kamen auch die sogenannten Kulissenbilder, die dem Guckkasten die dritte Dimension hinzufügten. Und schließlich die Weiterentwicklung vom Guckkasten zum Transparentbild mit seinen Verwandlungsmöglichkeiten durch die Veränderung der Beleuchtung, von denen selbst ernsthafte Künstler wie Caspar David Friedrich Gebrauch machten und die nicht zuletzt in Daguerres Diorama gipfelten. Daneben die Verwandtschaft zur Camera obscura, zu Anamorphosen mit ihren verzerrten und wieder entzerrten Abbildungen und zu den Spiegelkabinetten. Es ist schon erstauniich, was da alles zu Tage kommt, wenn man, wie die Autoren es taten, hier gründlich nachgräbt. Daß, durch die Kapitelaufteilung auf die einzelnen Autoren bedingt, einige Wiederholungen auftreten, stört da kaum.

 

Insgesamt ist so ein Buch entstanden, das nicht nur für den Sammler auf diesem Gebiet, sondern beispielsweise auch für den Fotografie-Interessierten wichtig ist, der wissen möchte, was sich vor der Erfindung der Fotografie auf dem Bildsektor abgespielt hat.

(Dr. Dieter Lorenz)

 

 

Der Komet, Pirmasens (1995) 20. Juli

Der Guckkasten

 

Heute in der Wirkung kaum nachvollziehbar und nur als Kuriosität bestaunt, war der Guckkasten über zwei Jahrhunderte eine wahre Attraktion. Vorführer zogen mit den Wunderkästen durch die Lande und lockten vor allem auf Jahrmärkten und Festen zahlreiche (zahlende) Zuschauer an, die die "Raritäten" bestaunten, die im Guckkasten zu betrachten waren. Ansichten ferner Städte und Landschaften, die Darstellung von Katastrophen oder sonstigen Ereignissen, aber auch mythologischen und biblischen Szenen dienten der Information und Bildung - als Vorläufer von Illustrierten, Film und Fernsehen. Wenn man bedenkt, daß insbesondere auf dem Lande Bilder etwas höchst Ungewöhnliches waren, läßt sich die Faszination dieses Blicks durch das Guckloch auf eine fremde Welt zumindest erahnen. Neben- bzw. weiterführende Formen waren die Faltperspektiven, die Räumlichkeit vortäuschten, das Transparentbild des Dioramas, das sogar Bewegungseffekte vermittelte, die Camera obscura und die Laterna Magica.

 

Das vorliegende Buch vermittelt die Geschichte und Besonderheiten dieser Unterhaltung, ein kulturhistorisch außerordentlich interessantes Thema, von den Autoren dieses Bandes sehr anschaulich dargestellt und mit vielen, zum größten Teil farbigen (und gut gedruckten) Abbildungen illustriert.

(Gisela Winkler)